"Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verluste": Arno Geiger.

Foto: Heribert Corn

"Und was ist das!?", fragt der betagte Vater. "Das sind Bäume, Papa." Er zieht die Brauen hoch: "Die erwecken aber nicht den Eindruck von Bäumen. "

Die Alzheimer-Welt ist von außen kaum zugänglich. Um eine Ahnung zu erlangen, was die Menschen erleben, denen die Demenz den Boden unter ihrer Wahrnehmung wegzieht, bedarf es einer großen Beobachtungsgabe und eines gehörigen Einfühlungsvermögens. Arno Geiger verfügt darüber in hohem Maße, zudem über eine beachtliche Analysefähigkeit und vor allem über seine Sprachkunst. Er schafft mit seinem neuen Werk Der alte König in seinem Exil eine ebenso eindringliche wie zutiefst humane Erzählung von seinem Vater.

Nicht nur ein persönliches Schicksal bringt er nahe, sondern auch eine - bei aller Pein - optimistische Geschichte von der Menschenwürde. "Es gibt da etwas zwischen uns, das mich dazu gebracht hat, mich der Welt weiter zu öffnen", bemerkt der Sohn auf den letzten Seiten; es sei "das Gegenteil von dem, was der Alzheimerkrankheit normalerweise nachgesagt wird - dass sie Verbindungen kappt. Manchmal werden Verbindungen geknüpft."

Wie ein alter König im Exil erscheint am Anfang des Buches der Vater, der rat- und rastlos durchs eigene Haus irrt, das er nicht mehr als Zuhause erkennt. Der gewöhnliche Bezug zu seiner Außenwelt bekommt Sprünge, geht verloren. In die immense innere Unsicherheit geben Fragen, Aussprüche, Gesprächsansätze höchstens den Schimmer eines Einblicks. Die Sprache, eine ungewisse Brücke: eine Aufgabe und Herausforderung für einen Schriftsteller.

Die erzählerische Vorstellungskraft führt uns die mittlere Phase der Demenz, in der die Krankheit deutlich als solche erkennbar wird und in der Arno Geiger die Geschichte seines Vaters ansetzt, vor Augen: "Als wäre man aus dem Schlaf gerissen, man weiß nicht, wo man ist, die Dinge kreisen um einen her, Länder, Jahre, Menschen. Man versucht sich zu orientieren, aber es gelingt nicht. Die Dinge kreisen weiter. Tote, Lebende, Erinnerungen, traumartige Halluzinationen, Satzfetzen (...) - und dieser Zustand ändert sich nicht mehr für den Rest des Tages." Der Erzähler bietet eine nachvollziehbare Möglichkeit einer Innensicht. Und zugleich schildert er den persönlichen Fall aus familiärer Nähe sowie mit Blick auf das Allgemeine. Lässt man sich auf eine Begegnung mit der ihnen vermutlich chaotisch erscheinenden Welt der Alzheimer-Kranken ein, so mag man sich wohl fragen, wie es um unsere rationale Weltsicht und unsere Wichtigkeiten bestellt ist.

Er habe gelernt, schreibt Arno Geiger, dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe brauche. Dies weiß er in seinem Buch berührend einsichtig mitzuteilen. Der tägliche Umgang mit dem Vater gleicht für die Familie "immer öfter einem Leben in der Fiktion": "Wir lernten, dass die Scheinheiligkeit der Wahrheit manchmal das Allerschlimmste ist."

Entsprechend unterwirft Geiger die gängigen Muster erzählter Einordnung und vergleichender Erklärung seiner genauen Betrachtung. Nein, die Betroffenen seien nicht wie kleine Kinder, wie eine ärgerliche Metapher behaupte, denn es gehöre zum Wesen des Kindes, "dass es sich nach vorne entwickelt. Kinder erwerben Fähigkeiten, Demenzkranke verlieren Fähigkeiten. Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verluste". Das Alter gebe nichts zurück, es sei eine Rutschbahn.

In des Vaters Abwärtsspirale, die ein Wieder-Zusammen-Finden der Familie zur Folge hat, setzt Arno Geiger als Kontrapunkt dessen Lebensgeschichte: von der ärmlichen Kleinbauernherkunft in Vorarlberg über das Trauma der fast letalen Kriegsgefangenschaft bis zum Posten des Gemeindeschreibers von Wolfurt und zum dauernden Werkeln am eigenen Haus. Und der Sohn, der so auch eigenen Lebensspuren nachgeht, schafft es, den Vater in den Alzheimer-Stadien als beachtlichen Menschen zu zeigen.

Alle Demenzkranken leiden an tiefer Heimatlosigkeit, wollen "nach Hause", an einen ihnen nun unzugänglichen Ort der Geborgenheit; nicht viele bringen derart poetisch klingende Sätze hervor wie August Geiger - bezeichnende Dialoge leiten jeweils die Kapitel des Buches ein. Oft erscheinen sie skurril, bisweilen als surreale Momente, in denen Komik mit Verzweiflung einhergeht. Wunderbare, erschütternde Sätze: "Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber" oder "Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter". Phasenweise verfügt der Vater über eine erstaunliche Lockerheit seiner Worte, sodass sich Arno Geiger geradezu "in Berührung mit dem magischen Potential der Wörter" wähnt.

Das alles erzählt er so einfühlsam, so nahe gehend, dass es der Versicherungen durch die Zitate eines Derrida oder Kundera oder anderer gar nicht bedürfte. Das Erzählen, merkt er im letzten Kapitel an, bringt "dadurch, dass es sich dem Verschwinden widmet, die verschwundenen Dinge zurück". (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 5./6. Februar 2011)